B. Lüthi u.a. (Hrsg.): Switzerland and Migration

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Titel
Switzerland and Migration. Historical and Current Perspectives of a Changing Landscape


Herausgeber
Lüthi, Barbara; Skenderovic
Reihe
Palgrave Studies in Migration History
Erschienen
Cham 2019: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
357 S.
von
Kristina Schulz, Institut d'Histoire, Universität Neuchâtel

In zeitgenössischen Migrationsdebatten geht es so gut wie immer um Zugewanderte. Sie werden von denjenigen Frauen und Männern abgegrenzt, die vermeintlich «schon immer» da waren. Ein Verständnis von Migration als Zuwanderung dominiert auch in dem vorgelegten Sammelband, herausgegeben von der in Köln tätigen Migrationshistorikerin Barbara Lüthi und dem Freiburger Zeithistoriker Damir Skenderovic. Die Hälfte der hier versammelten vierzehn Beiträge befasst sich mit der Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung in die Schweiz, vier mit Auswanderung und zwei mit Verhandlungen an oder über Grenzen und Grenzziehungspraktiken; ein Beitrag (von Nelly Valsangiacomo) verknüpft auf geschickte Weise Fragen der Ein- und der Auswanderung. Die Betonung von ein- gegenüber ausgehender Migration spiegelt die Problemwahrnehmung des 21. sowie grosser Teile des 20. Jahrhunderts wider. Die Sorge um «Schweizer anderswo» trat dahinter zurück, wenn sie auch, wie die Kapitel im letzten Teil des Buchs zeigen, in spezifischen Momenten virulent wird. Interne Migrationen, also Wanderungen im Binnenraum der Schweiz, kommen in dem Band nicht zur Sprache.

Mit dieser Zusammensetzung richtet sich der Fokus des Buches auf Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts, mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte der vergangenen fünf bis sechs Dekaden: Kategorien der Sozialanthropologie, der critical whiteness, der gender-, der postcolonial oder der border studies aufnehmend, befassen sich fünf der Beiträge mit aktuellen Erkenntnisinteressen der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung, neun wählen einen historischen Ansatz, davon die meisten bezogen auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Lediglich zwei Beiträge sprechen Entwicklungen vor 1945 an, keiner die Geschichte des 19. Jahrhunderts oder davor. Das Buch richtet sich also in erster Linie Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker sowie an sozialwissenschaftlich und interdisziplinär arbeitende Migrationsforschende.

Die Beiträge gliedern sich in vier Sektionen, gerahmt von einer von der Herausgeberin und dem Herausgeber verfassten Einleitung sowie einem substantiellen Epilog, der von Donna R. Gabaccia stammt, einer der Pionierinnen der historischen Immigrationsforschung im angelsächsischen Raum. Diesen beiden Texten kommt es zu, den roten Faden zwischen den Beiträgen zu legen, die sich hinsichtlich ihres Fokus, ihrer Untersuchungsebene und ihres Forschungsansatzes unterscheiden. Die Einleitung liefert dazu einen Forschungsstand, der das wissenschaftliche Feld grob skizziert, in dem sich der Band verortet. Der Anspruch des Buchs, verschiedene Migrationsmuster einzubeziehen, wird durch ein breites Verständnis von Migration als «crossing the boundaries of a political or administrative unit for a certain minimum period of time» (S. 9) unterstrichen. Gemessen daran ist es bedauerlich, dass Zwangsmigration, Flucht und Exil, wenngleich in der Einleitung angesprochen, in den Beiträgen nur am Rande thematisiert und Migrationen, die im Zusammenhang der Entstehung des modernen Nationalstaats im 19. Jahrhundert stehen, ausgeblendet bleiben.

Der Epilog übernimmt die Aufgabe, den Fall der Schweiz für eine internationale Leserschaft zu perspektivieren. Dies geschieht, indem Grundlagen des politischen Systems der Schweiz (Föderalismus, direkte Demokratie) erklärt werden. Die Autorin handelt zudem terminologische Aspekte ab, insbesondere die Abwesenheit des Begriffs immigrant (Einwanderer) in der schweizerischen Debatte (ganz im Gegensatz zum Sprachgebrauch in den Ländern Nordamerikas).

In vier Sektionen fragt das Buch nach Wissensproduktion im Kontext von Migration (I), nach Migrationsregimen (II), nach der politischen Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten (III) und nach transnationale Praktiken und Wahrnehmungen (IV). Es ist das erklärte Ziel des Bandes, Forscherinnen und Forschern Raum zu geben, neuere Ansätze und aktuelle Forschungsergebnisse zu präsentieren und damit konzeptuelle Pflöcke zur Markierung eines Forschungsfeldes einzuschlagen, das noch wenig konturiert ist (wenngleich aus meiner Sicht nicht ganz so «dürftig», wie in der Einleitung behauptet). Vor diesem Hintergrund ist etwa Kijan Espahangizis Plädoyer für eine Wissensgeschichte der Migration zu verstehen oder auch Patrizia Purtscherts Aufforderung, Ansätze der kritischen Rassismusforschung für die Erforschung von Migration im Kontext der Schweiz fruchtbar zu machen. Historikerinnen und Historiker werden sich über den Einbezug bislang wenig beachteter Quellengattungen freuen, etwa im Beitrag von Nelly Valsangiacomo, die sich mit der Darstellung von Migranten in audiovisuellen Medien der 1960er und 1970er Jahren befasst, bei Francesco Garufo und Christelle Maire, welche die geschlechtliche Kodierung politischer Plakate untersuchen oder in Stefan Wellgrafs theoretisch wie empirisch überzeugenden Untersuchung von Postkarten-Korrespondenzen zwischen Brasilien und der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sektion III über Formen und Praktiken der politischen Selbstorganisation und Partizipation von Migrantinnen und Migranten beinhaltet ausschliesslich Fallstudien zur italienischen Migration. Behandelt wird die Geschichte der Colonie libere italiane in Svizzera, über die in deutscher Sprache schon einiges erschienen ist (Beitrag von Toni Ricciardi und Sandro Cattacin), die Bildungspolitik des Kantons Zürich im Kontext der italienischen Zuwanderung in den 1960er und 1980er Jahren (Beitrag von Philipp Eigenmann, dessen Dissertation vor einiger Zeit zum gleichen Thema erschienen ist) und die Integrationspolitik des Kantons Basel-Stadt, der sich Flavia Grossmann widmet. Trotz der unbestrittenen Qualität dieser Beiträge wirft die Fokussierung auf die italienische Zuwanderung die Frage nach der Auswahl und Repräsentativität der im Buch versammelten Beiträge auf: Handelt es sich um Untersuchungen mit exemplarischen Charakter (und wenn ja, wofür?) oder geht es bottom up in erster Linie darum, vielversprechende neue Perspektiven zu präsentieren?

Warum kann die Lektüre dieses Buches von Nutzen sein? Zum einen vermittelt sie einen Einblick in aktuelle Forschungen und Fragestellungen, die sich aus Geschichte und Gegenwart von Migrationen im Schweizer Kontext ergeben. Der Spagat zwischen vergangenheits- und gegenwartsbezogenen Arbeiten gelingt dabei nur halb: Bezüge zwischen einzelnen Kapiteln und Perspektiven bleiben blass. Allenfalls der Epilog stellt einige hilfreiche Querverbindungen her, etwa wenn er auf Kontinuitäten der Rassialisierung verweist. Zum anderen wird deutlich, dass es lohnt, Fragen, welche die internationale Migrationsforschung bewegen – etwa nach kolonialer Verstrickung, nach der Bedeutung von race und gender oder nach transnationalen Praktiken – auch in Bezug auf ein Land zu stellen, das vermeintlich durch racelessness und koloniale Abstinenz gekennzeichnet ist.

Wer vor der Lektüre wenig über die Schweiz wusste, wird vermutlich Schwierigkeiten haben, aus hochspezialisierten Einzelstudien generellere Schlüsse zu ziehen. Herausgeberin und Herausgeber hätten hier stärker eingreifen und zu den einzelnen Sektionen hinleiten können. Dies hätte nicht nur die Gelegenheit geboten, die Sektionsthemen im weiten Feld der Migrationsforschung besser zu verorten, sondern auch, konkrete Bezüge zwischen den Kapiteln herzustellen, wo der Epilog notgedrungen allgemein bleiben muss. Wer dagegen zu einem der in den Beiträgen abgehandelten Themen selber arbeitet, wird fündig in gut recherchierten und auch darstellerisch gelungenen Fallbeispielen.

Zitierweise:
Schulz, Kristina: Rezension zu: Lüthi, Barbara; Skenderovic, Damir (Hg.): Switzerland and Migration. Historical and Current Perspectives of a Changing Landscape, Cham 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 327-329. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

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